Das Silberglöckchen
Ein Schäferjunge zu Patzig, eine halbe Meile von
Bergen, wo es in den Hügeln auch viele
Unterirdische hat, fand eines Morgens ein
silbernes Glöckchen auf der grünen Heide
zwischen den Hünengräbern und steckte es zu
sich. Es war aber das Glöckchen von einer Mütze
eines kleinen Braunen, der es da im Tanze
verloren und nicht sogleich bemerkt hatte, dass
es an dem Mützchen nicht mehr klingelte. Er war
nun ohne das Glöckchen heruntergekommen und war
sehr traurig über diesen Verlust. Denn das
Schlimmste, was den Unterirdischen begegnen
kann, ist, wenn sie die Mütze verlieren, dann
die Schuhe. Aber auch das Glöckchen an der Mütze
und das Spänglein am Gürtel ist nichts Geringes.
Wer das Glöckchen verloren hat, der kann nicht
schlafen, bis er es wiedergewinnt, und das ist
doch etwas recht Betrübtes. Der kleine
Unterirdische in dieser großen Not spähete und
spürte umher; aber wie sollte er erfahren, wer
das Glöcklein hatte? Denn nur wenige Tage im
Jahr dürfen sie an das Tageslicht hinaus, und
dann durften sie auch nicht in ihrer wahren
Gestalt erscheinen. Er hatte sich schon oft
verwandelt in allerlei Gestalten, in Vögel und
Tiere, auch in Menschen, und hatte von seinem
Glöckchen gesungen und geklungen und gestöhnt
und gebrüllt und geklagt und gesprochen; aber
keine kleinste Kunde oder nur Spur von einer
Kunde war ihm bis jetzt zugekommen. Denn das war
das Schlimmste, dass der Schäferjunge gerade den
Tag, nachdem er das Glöckchen gefunden, von
Patzig weggezogen war und jetzt zu Unrow bei
Gingst die Schafe hütete. Da begab es sich erst
nach manchem Tag durch ein Ungefähr, dass der
arme kleine Unterirdische wieder zu seinem
Glöckchen und zu seiner Ruhe kommen sollte.
Er war nämlich auf den Einfall gekommen, ob auch
ein Rabe oder Dohle oder Krähe oder Uglaster das
Glöckchen gefunden und etwa bei seiner
diebischen Natur, die sich in das Blanke
vergafft, in sein Nest getragen habe. Und er
hatte sich in einen angenehmen, kleinen bunten
Vogel verwandelt und alle Nester auf der ganzen
Insel durchflogen und den Vögeln allerlei
vorgesungen, ob sie ihm verraten möchten, dass
sie den Fund getan hätten, und er so wieder zu
seinem Schlaf käme. Aber die Vögel hatten sich
nichts merken lassen. Als er nun des Abends flog
über das Wasser von Ralow her über das Unrower
Feld hin, weidete der Schäferjunge, welcher
Fritz Schlagenteuffel hieß, dort eben seine
Schafe. Mehrere der Schafe trugen Glocken um den
Hals und klingelten, wenn der Junge sie durch
seinen Hund in den Trab brachte. Das Vögelein,
das über sie hinflog, dachte an sein Glöcklein
und sang in seinem traurigen Mut:
Glöckelein, Glöckelein.
Böckelein, Böckelein,
Schäflein auch du,
Trägst du mein Klingeli,
Bist du das reichste Vieh,
Trägst meine Ruh.
Der Junge horchte nach oben auf diesen seltsamen
Gesang, der aus den Lüften klang, und sah den
bunten Vogel, der ihm noch viel seltsamer
vorkam. Er sprach bei sich: »Potztausend, wer
den Vogel hätte! Der singt ja, wie unsereiner
kaum sprechen kann. Was mag er mit dem
wunderlichen Gesange meinen? Am Ende ist es ein
bunter Hexenmeister. Meine Böcke haben nur
tonbackene Glocken, und er nennt sie reiches
Vieh, aber ich habe ein silbernes Glöckchen, und
von mir singt er nichts!« Und mit den Worten
fing er an, in der Tasche zu fummeln, holte sein
Glöckchen heraus und ließ es klingen. Der Vogel
in der Luft sah sogleich, was es war, und freute
sich über die Maßen; er verschwand aber in der
Sekunde, flog hinter den nächsten Busch, setze
sich, zog sein buntes Federkleid aus und
verwandelte sich in ein altes Weib, das mit
kümmerlichen Kleidern angetan war. Die alte
Frau, mit einem ganzen Sack voll Seufzer und
Ächzer versehen, stümperte sich quer über das
Feld zu dem Schäferbuben hin, der noch mit
seinem Glöcklein klingelte und sich wunderte, wo
der schöne Vogel geblieben war, räusperte sich
und tat einige Huster aus hohler Brust und bot
ihm dann einen freundlichen guten Abend und
fragte nach der Straße zu der Stadt Bergen. Dann
tat sie, als ob sie das Glöcklein jetzt erst
erblickte, und rief: »Herre je, welch ein
niedliches, kleines Glöckchen! Hab' ich doch in
meinem Leben nichts Feineres gesehen! Höre, mein
Söhnchen, willst du die Glocke verkaufen? Und
was soll sie kosten? Ich habe ein kleines
Enkelchen, für den wäre sie mir eben ein
bequemes Spielgerät.« - »Nein, die Glocke wird
nicht verkauft!« antwortete der Schäferknabe
kurz abgebissen; »das ist eine Glocke, so eine
Glocke gibt's in der Welt nicht mehr: wenn ich
nur damit anklingele, so laufen meine Schafe von
selbst hin, wohin ich sie haben will; und
welchen lieblichen Ton hat sie! Hört mal,
Mutter«, (und er klingelte) »ist eine Langeweile
in der Welt, die vor dieser Glocke aushalten
kann? Dann kann ich mir die längste Zeit
wegklingeln, dass sie in einem Hui fort ist.«
Das alte Weib dachte: »Wollen sehen, ob er
Blankes aushalten kann?« und hielt ihm Silber
hin, wohl drei Taler; er sprach: »Ich verkaufe
aber die Glocke nicht.« Sie hielt ihm fünf
Dukaten hin; er sprach: »Das Glöckchen bleibt
mein.« Sie hielt ihm die Hand voll Dukaten hin;
er sprach zum drittenmal: »Gold ist Quark und
gibt keinen Klang.« Da wandte die Alte sich und
lenkte das Gespräch anderswohin und lockte ihn
mit geheimen Künsten und Segenssprechungen,
wodurch sein Vieh Gedeihen bekommen könnte, und
erzählte ihm allerlei Wunder davon. Da ward er
lüstern und horchte auf. Das Ende vom Liede war,
dass sie ihm sagte: »Höre, mein Kind, gib mir
die Glocke; siehe, hier ist ein weißer Stock«
(und sie holte ein weißes Stäbchen hervor,
worauf Adam und Eva sehr künstlich geschnitten
waren, wie sie die paradiesischen Herden
weideten, und wie die feistesten Böcke und
Lämmer vor ihnen hintanzten; auch der
Schäferknabe David, wie er ausholt mit der
Schleuder gegen den Riesen Goliath), »diesen
Stock will ich dir geben für das Glöckchen, und
solange du das Vieh mit diesem Stäbchen treibst,
wird es Gedeihen haben, und du wirst ein reicher
Schäfer werden; deine Hämmel werden immer vier
Wochen früher fett werden als die Hämmel aller
andern Schäfer, und jedes deiner Schafe wird
zwei Pfund Wolle mehr tragen, ohne dass man
ihnen den Segen ansehen kann.« Die alte Frau
reichte ihm den Stock mit einer so
geheimnisvollen Gebärde und lächelte so leidig
und zauberisch dazu, dass der Junge gleich in
ihrer Gewalt war. Er griff gierig nach dem Stock
und gab ihr die Hand und sagte: »Topp, schlag
ein! Die Glocke ist dein für den Stock.« Und sie
schlug ein und nahm die Glocke und fuhr wie ein
leichter Wind über das Feld und die Heide hin.
Und er sah sie verschwinden, und sie deuchte ihm
wie ein Nebel hinzu fließen und sanft
fortzulaufen, und alle seine Haare richteten
sich zu Berge.
Der Unterirdische, der ihm die Glocke in der
Verkleidung einer alten Frau abgeschwatzt, hatte
ihn nicht betrogen. Denn die Unterirdischen
dürfen nicht lügen, sondern das Wort, das sie
von sich geben oder geloben, müssen sie halten;
denn wenn sie lügen, werden sie stracks in die
garstigsten Tiere verwandelt, in Kröten,
Schlangen, Mistkäfer, Wölfe und Lüchse und
Affen, und müssen wohl Jahrtausende in Abscheu
und Schmach herumkriechen und herumstreichen,
ehe sie erlöst werden. Darum haben sie ein
Grauen davor. Fritz Schlagenteuffel gab genau
acht und versuchte seinen neuen Schäferstab, und
er fand bald, dass das alte Weib ihm die
Wahrheit gesagt hatte, denn seine Herde und all
sein Werk und seiner Hände Arbeit geriet ihm
wohl und hatte ein wunderbares Glück, so dass
alle Schafherren und Oberschäfermeister diesen
Jungen begehrten. Er blieb aber nicht lange
Junge, sondern schaffte sich, ehe er noch
achtzehn Jahre alt war, seine eigene Schäferei
und ward in wenigen Jahren der reichste Schäfer
auf ganz Rügen, so dass er sich endlich ein
Rittergut hat kaufen können: und das ist Grabitz
gewesen hier bei Rambin, was jetzt den Herren
vom Sunde gehört. Da hat mein Vater ihn noch
gekannt, wie aus dem Schäferjungen ein Edelmann
geworden war, und hat er sich auch da als ein
rechter, kluger und frommer Mann aufgeführt, der
bei allen Leuten ein gutes Lob hatte, und der
hat seine Söhne wie Junker erziehen lassen und
seine Töchter wie Fräulein, und es leben noch
davon und dünken sich jetzt vornehme Leute. Und
wenn man solche Geschichten hört, möchte man
wünschen, dass man auch mal so etwas erlebte und
ein silbernes Glöcklein fände, das die
Unterirdischen verloren haben. |