Das Land Morgenstern
(Eine Sage vom Ostseestrand)

Es war einmal ein Fischer, der fuhr einen Tag um den anderen hinaus, doch wenn er sein Netz hochzog, war gar nichts drin, kein einziger Fisch. Bald hatte er nichts mehr zu brechen und zu beißen.

Als er wieder einmal am Strand ist und den Kopf hängen lässt, kommt wie von ungefähr ein feiner Herr vorbei. »Na, wo fehlt's denn?« fragt er. »Du siehst ja aus, als sei dir die Suppe verhagelt.« Darauf erzählt der Fischer von seinem Missgeschick.

»Hör zu, du sollst so viele Fische fangen, dass es dir immer gut geht«, sagt der feine Herr, »du musst mir nur das geben, was dir in deinem Haus zuerst entgegenkommt. Fünfzehn Jahre kannst du das noch behalten, dann ist die Frist verstrichen, und du musst es um diese Zeit und Stunde hierher bringen.«

Der Fischer hofft im stillen, es werde sein Hund sein, der ihm immer entgegen springt, wenn er die Tür öffnet, und der ist in fünfzehn Jahren alt und schwach. Deshalb zögert er nicht weiter und sagt zu. Wie er aber die Tür auftut, läuft sein kleiner Junge auf ihn zu. Ach, was hast du getan, denkt der Fischer, jetzt hast du dem Teufel dein eigenes Kind versprochen!

Aber von diesem Tag an fängt er immer so viele Fische, dass er bald keine Not mehr kennt, ja, er wird sogar ein reicher Mann. Hans, sein Sohn, wird groß und stark und fährt auch mit hinaus. Unaufhaltsam vergeht die Zeit, nicht mehr lange, und die fünfzehn Jahre sind um. Da blickt der Fischer wieder traurig drein, und eines Tages fragt ihn der Junge: »Vater, was fehlt dir, du siehst jetzt so ganz anders aus?«

»Das mag ich dir gar nicht sagen, mein Sohn«, sagt der Fischer verzagt. »Ach was, Vater, mir kannst du es doch erzählen!« Der Fischer hält seinen Kummer nicht mehr zurück: Morgen seien auf den Tag die fünfzehn Jahre um. »Lasst nur, Vater«, sagt Hans darauf, »das mag sein, wie es will, ich jedenfalls habe mich dem Bösen nicht verschrieben und werde schon mit ihm fertig werden.« Anderntags gehen die beiden hinunter an die See, und der Junge steigt ins Boot. Der Vater bleibt am Stand stehen. Es dauert nicht lange, da kommt der Teufel herbei. »Na«, ruft er, »wo ist nun das, was du mir zugesagt hast?«

»Da ist es«, sagt der Fischer, »nimm es dir!« Bei diesen Worten stößt er das Boot mit dem Fuß vom Land ab, denn auf dem Wasser kann der Teufel dem Jungen nichts anhaben. Nur auf dem Land kann er ihn bekommen, wo sie es damals auch vereinbart haben. Der Teufel ruft, aber Hans stellt sich taub. Da wendet sich der Teufel zum Gehen, doch lässt er einen gewaltigen Sturm aufkommen, und der Junge treibt in seinem Boot weit fort.

Als der Wind endlich nachlässt, weiß Hans nicht mehr, wo er ist, doch treibt er alsbald einem fremden Strand zu. Er steigt aus und beginnt landein zu wandern. Irgendwo müssen doch Menschen wohnen. Er spürt nun auch Hunger, geht weiter und immer weiter, kommt schließlich auf einen festen Weg und sieht in der Ferne ein prächtiges Schloss, das glänzt und blitzt nur so aus allen Fenstern.

Er tritt ein, aber niemand ist zu sehen und zu hören. Er öffnet eine Tür und sagt: »Guten Tag!«, damit sich endlich jemand zeige. »Guten Tag, Hans!« sagt da auch jemand. Aber wer? Nur einen Vogel sieht er, in einem kleinen Käfig, der dicht unter der Zimmerdecke hängt. »Bist du das, der da redet?« fragt Hans. »Ja«, sagt der Vogel, »und du sollst gleich noch mehr von mir hören. Ich bin eine Prinzessin und schon lange hier verzaubert.

Du kannst mich nun erlösen, dann werde ich deine Frau, und du bist hier der König.« »Das wäre schon etwas, darüber ließe sich reden, aber wie in aller Welt soll ich das anfangen?« Der Vogel sagt: »Du musst drei Nächte hier im Schloss schlafen. Mag kommen, was da will, und was man auch mit dir anstellt, du musst still und stumm bleiben und darfst nicht Ruck und nicht Muck sagen. Wirst du das können?« Hans nickt eifrig. »Gut, dann geh hier in die nächste Stube, dort findest du den Tisch für dich gedeckt. Wenn du müde bist, das Bett steht schon da.« Hans betritt die Stube und stärkt sich nach der langen Reise. Als er satt ist, legt er sich ins Bett und schläft ein.

Nach Mitternacht erhebt sich ein greulicher Lärm. Drei Kerle wie die Bären kommen in die Stube, zerren ein mächtiges Rad herein, packen ihn und machen alle Anstalten, ihn zu rädern. Aber wie sie ihn aufs Rad legen wollen, rutscht er immer darüber hinweg, nach der einen Seite, dann nach der anderen. Bald spürt Hans seine Knochen, doch er sagt nichts, er schweigt bickenboomstill, und wo sie ihn hinwerfen, da bleibt er liegen wie ein schwerer Sack. Das grobe Hantieren geht bis ein Uhr. Dann verschwinden die drei Kerle, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Hans kann kaum noch ein Glied rühren, so sind sie mit ihm umgegangen. Aber da, ein schwarzes Wesen huscht zur Tür herein, die Prinzessin. Sie bringt ein Glas mit Lebenswasser und besprengt ihn damit. Dann hilft sie ihm aufstehen, gibt ihm schnell noch einen Kuss und ist schon wieder fort.

Als Hans am andern Morgen aufwacht, tut ihm nichts mehr weh. Er steht auf, der Tisch ist bereits gedeckt, er isst und trinkt, geht dann durchs Schloss und sieht sich alle Zimmer und Säle an, danach den Garten, und als er hungrig ist, setzt er sich wieder an den Tisch und lässt sich's schmecken. Der Tag vergeht, und als es Abend wird, legt er sich ins Bett und schläft ein.

Um zwölf Uhr beginnt der Lärm von neuem. Sie kommen wahrhaftig wieder, die drei Kerle, diesmal mit einem großen, schweren Klotz und einem Beil, reißen ihn aus dem Bett und wollen ihn auf den Klotz werfen, um ihn in Stücke zu hacken. Zum Glück kommt es nicht dazu, sie werfen ihn immer nach rechts und links über den Klotz hinweg. Als die Stunde um ist, lassen sie ihn liegen und gehen fort.

Wieder kann er sich kaum noch regen, so haben sie ihm zugesetzt. Da kommt die Prinzessin, besprüht ihn mit Lebenswasser, hilft ihm auf, küsst ihn zweimal und geht wieder hinaus. In der dritten Nacht schleppen sie einen großen Sarg heran. Da soll er hinein, doch werfen sie ihn wieder nur darüber hinweg und arbeiten angestrengt die ganze Stunde lang. Hans hält alles aus und schweigt. Nachher kommt die Prinzessin mit dem Lebenswasser, hilft ihm auf und küsst ihn dreimal. Am nächsten Morgen, als Hans erwacht, tritt sie wieder ins Zimmer und sagt: »Guten Morgen, Hans!« Darf er sprechen? Nein, lieber schweigt er noch. Da lacht die Prinzessin und sagt: »Nun kannst du reden, du hast mich ja erlöst!«

Das wird ein fröhliches Mahl. Dann gehen sie miteinander durch das ganze Schloss. Was sehen sie: Alles ist wieder lebendig. Damen und Herren, Diener und Soldaten und Pferde und der ganze Hofstaat. Das alles soll nun ihm gehören? Hans kann es noch gar nicht fassen. Jetzt soll auch die Hochzeit sein. Aber erst will er zu seinen Eltern reisen und von seinem Glück berichten. Die Prinzessin steckt ihm einen Ring an den Finger. »Damit kannst du dich hinwünschen und wieder zurück. Nur darfst du ihn nicht verlieren, und du darfst auch von unserem Land und Schloss Morgenstern und von mir und meiner Schönheit nichts erzählen, hörst du? Solltest du es doch tun, wirst du weder das Schloss noch mich in deinem ganzen Leben wieder sehen.« Hans versichert, er werde alles gut bedenken. Dann steckt er sich die Taschen voll Goldstücke, um seinen Eltern etwas mitzubringen, und bricht auf. Als er nicht mehr lange laufen kann, dreht er den Ring und wünscht sich nach Hause. Schon steht er bei seinen Eltern in der Stube. Wie groß ist die Freude, dass Hans wieder da ist, denn sie hatten ihn tot geglaubt!

Eine Woche bleibt er daheim, dann will er wieder zurück. Warum willst du schon wieder fort?« sagen seine Eltern. Bleib doch hier, Geld haben wir jetzt genug, und es geht uns gut.« »Nein«, sagt Hans, »ich will wieder dorthin zurück, meine Braut wartet.« »Eine Braut kannst du auch hier finden«, hält ihm sein Vater entgegen. »Ja, aber nicht so eine, wie ich dort habe«, sagt Hans und fängt an, von der Prinzessin zu schwärmen. Wie er im schönen Erzählen ist, muss er wohl am Ring gedreht haben, denn plötzlich erscheint neben ihm die Prinzessin, und voller Schreck weiß er nun, was er getan hat. Das gibt ein großes Erstaunen, als die Eltern das schöne fremde Mädchen sehen. Sie fasst Hans an der Hand und zieht ihn mit sich fort, hinunter die See, und dort am Strand setzen sie sich nieder. Nach einer Weile wird Hans schläfrig. Er legt den Kopf in ihren Schoß, und es dauert nicht lange, ist er eingeschlafen.

Geschwind zieht sie ihm den Ring vom Finger und steckt ihm einen andern dafür an, »Nun will ich zurück nach dem Lande Morgenstern, leb wohl, lieber Hans!« flüstert sie noch und ist verschwunden. Als Hans erwacht und sich verlassen sieht, dreht er den Ring, immer wieder, aber er bleibt allein am Strand. Da ist er todtraurig, denn er weiß ja nicht, wo er das Land Morgenstern suchen soll. Trotzdem geht er los und kommt nach einer Weile in einen großen Wald. Dort hört er es poltern und krachen, dass die Erde bebt. Beim näher kommen sieht er, dass sich drei Riesen fürchterlich schlagen und aufeinander einhauen.

»Warum schlagt ihr euch denn?« fragt Hans. »Ach, du kleiner Erdenwurm«, stößt der eine höhnisch hervor, »was geht denn dich das an?« »Lass ihn doch, die kleinen Menschen sind manchmal klug im Kopf«, brummt der zweite. »Ja«, stimmt ihm der dritte zu, »vielleicht kann er uns helfen, die Sachen richtig zu teilen.« »Was habt ihr denn da?« fragt Hans. »Ich hab ein Paar Stiefel«, sagt der erste, nun schon etwas umgänglicher, »mit denen komme ich bei jedem Schritt sieben Meilen voran.« »Lass sie mich einmal anziehen.« »Nein, dann reißt du aus, und ich bin sie los.« »Wenn ich die Stiefel nicht anprobieren darf, kann ich dazu auch nichts sagen.« Das leuchtet selbst einem schwerfälligen Riesen ein. Also darf Hans sie anziehen, und er macht zur Probe einen Riesenschritt hin und einen wieder zurück. »Ja, die sind ganz so, wie du gesagt hast. Was hast du denn da?«

»Ich hab einen Hut mit drei Ecken«, sagt der zweite Riese. »Wenn ich ihn drehe, fliegt aus jeder Ecke eine Kanonenkugel heraus. Nun pass auf: Was ist mehr wert, seine Stiefel oder mein Hut?« »Lass mich ihn erst einmal aufsetzen«, sagt Hans. Er bekommt den Hut und dreht ihn. Rrrrums! donnern drei Kugeln davon. »Ja«, sagt er begeistert, »das ist ein Hut, wie ich noch keinen gesehen habe!«

»Siehst du, meinen Hut ist mehr wert als deine Stiefel!« sagt der zweite Riese zum ersten, und wie der Streit von neuem losgeht, tritt der dritte dazwischen und sagt: »Halt! Das Beste habe ich hier, einen Mantel. Wenn ich den anziehe. kann mich keiner mehr sehen.« »Das kann doch wohl nicht möglich sein«, sagt Hans, läßt sich den Mantel geben, zieht ihn an - und weg ist er, sieben Meilen mit jedem Schritt, die Riesen haben ihn ja nicht sehen und festhalten können.

Nun geht es schnell voran, und auf einmal ist Hans schon bei der Sonne. »Guten Tag, Frau Sonne«, sagt er. »Ihr kommt doch weit herum in der Welt, könnt Ihr mir sagen, wo das Land Morgenstern liegt?«

»Nein«, sagt die Sonne, »ich kenne es nicht, aber frage einmal meinen Bruder, den Mond, der geht gleich auf, vielleicht kennt er es.« Hans schreitet mit seinen Stiefel tüchtig aus und kommt bald zum Mond. »Guten Tag, lieber Mond«, sagt er. »Ihr kommt doch weit herum in der Welt, könnt Ihr mir sagen, wo das Land Morgenstern liegt?«

»Nein«, sagt der Mond, »das kann ich dir nicht genau sagen. Ich glaube, als ich dort schien, stand gerade eine Wolke davor. Aber warte einmal, mein Bruder, der Wind, wird das wissen.« Hans macht sich auf den Weg. »Guten Tag, lieber Wind«, sagt er. »Ihr kommt doch weit herum in der Welt, könnt Ihr mir sagen, wo das Land Morgenstern liegt?« »Ja«, sagt der Wind, »da kommst du gerade recht. Ich will Hochzeitswäsche hinbringen, und wenn du gut zu Fuß bist, kannst du mich begleiten.« »Das bin ich«, sagt Hans. »Mehr als sieben Meilen mit jedem Schritt kannst du wohl auch nicht schaffen.«

Dann geht es los, der Wind voraus und Hans hinterher, in Riesenschritten über Wälder und Berge, über Land und Strand. Hans hat zu tun, dass er mitkommt. Zuletzt sagt der Wind: »Jetzt kannst du allein weitergehen. Ehe ich die Hochzeitswäsche hole, muss ich noch einen Schlag Tannenholz umreißen, damit sie bei der Hochzeit etwas zu brennen haben. Hinter dem Berg da vor uns triffst du ein paar Mädchen, die stehen dort und waschen. Dann ist es nicht mehr weit nach dem Land Morgenstern.« Hans bedankt sich und ist bald bei den Mädchen, die da waschen. Sie fragen ihn: »Hast du nicht den Wind gesehen? Er soll doch kommen und die Hochzeitswäsche holen.« »Ja«, sagt Hans. »Er reißt nur noch einen Schlag Tannenholz um, damit sie bei der Hochzeit etwas zu brennen haben Lange wird es nicht mehr dauern, dann ist er hier. Aber sagt mir doch, wie komme ich nach dem Land Morgenstern?« Nun weisen sie ihm den Weg.

Als Hans vor dem Schloss steht, sieht er erst, dass er von dem weiten Marsch über Busch und Strauch, über Wälder und Berge so abgerissen ist, dass er sich gar nicht sehen lassen kann auf dem prächtigen Fest. Darum schlüpft er in seinen Mantel, zieht aber noch die Stiefel aus, damit er nicht zu weit ausschreitet. Dann geht er ins Schloss hinein

Die Prinzessin, die glaubt, Hans werde nie wiederkommen, hat nun einen anderen Bräutigam. Gerade sitzt sie am Tisch bei dem letzten Mahl vor dem Hochzeitsfest, da tritt Hans leise hinter ihren Stuhl - sehen kann sie ihn ja nicht -‚ und als die Prinzessin trinken will, nimmt er ihr das Glas aus der Hand, leert es selber und lässt den Ring hineinfallen, den sie ihm noch an den Finger steckte.

Da weiß sie, dass Hans wiedergekommen ist. Wo mag er sein? Verwirrt steht sie auf und geht in ihr Gemach. Hans folgt unbemerkt und nimmt den Mantel ab. Da steht er plötzlich vor ihr. »Ach Hans«, sagt sie, »wie bist du nur auf einmal wieder hergekommen?« »Siehst du«, sagt er, »ich habe dich doch gefunden, und nun geh ich nie mehr fort.« »Nein«, sagt sie, »das sollst du auch nicht.« Sie fasst ihn fest um den Hals und küsst ihn. »Du hast mich ja erlöst, dich will ich haben und keinen anderen!«

Sie lässt Sachen für ihn holen, und während er sie anzieht, geht sie zurück in den Saal, wo sich die Hochzeitsgäste gerade allerlei Rätsel aufgeben. Da sagt die Prinzessin, sie möchte ihnen auch eine Rätselfrage stellen, und beginnt: »Von meinem Schrank verlor ich den Schlüssel, da ließ ich mir einen neuen machen. Nun habe ich aber den ersten Schlüssel wieder gefunden.

Welchen soll ich jetzt nehmen, den alten oder den neuen?«
Da sagen alle: »Den alten!«
»Ja, seht ihr«, setzt sie hinzu. »Ich hatte einen Bräutigam und verlor ihn und schaffte mir einen andern an. Aber der erste ist wiedergekommen, und nun werde ich den auch wieder nehmen.« Da tritt Hans zur Tür herein, mit seinem Hut auf dem Kopf. Er geht ans Fenster, dreht ihn und schießt mit Donnergetöse die Kanonenkugeln ab. Da hat es dem neuen Bräutigam vor Schreck die Sprache verschlagen. Hans hat die Prinzessin gefreit und ist König geworden im Land Morgenstern.


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