Die Seejungfrau im Haff
(Eine Sage vom Ostseestrand)

Nach altem Seemannsglauben hielten sich die Seejungfern meist in der offenen See auf. Bei Sonnenschein und Windstille kamen sie aus dem Wasser und sangen mit zarten, glockenreinen Stimmen herrliche Lieder. Doch sie waren sehr scheu, und nahte ein Schiff oder ein Boot, tauchten sie geschwind hinab in die Tiefe. Daher haben die Menschen sie kaum jemals gesehen und nur selten ihre lieblichen Weisen gehört.

Auch im Haff vor der Insel Usedom soll einmal eine Seejungfer gewohnt haben, die jedem Fischer, dem sie erschien, zu einem guten Fang verhalf.

Einst hatte ein furchtbarer Sturm das Wasser dem Haffstrand zugedrängt, so dass die dort ansässigen Fischer lange Zeit nicht hinausfahren konnten und in den armseligen Katen bittere Not herrschte. In der letzten Fischerhütte nahe am Strande wohnte eine arme Witwe mit ihrem einzigen Sohn. Der war redlich und fleißig und arbeitete unermüdlich. Aber er hatte das kleinste Boot, und seine Netze waren schon alt und mürbe. Das Geld, um neue zu kaufen, konnte er beim besten Willen nicht zusammenbringen, denn seine Mutter lag seit Wochen krank danieder und brauchte einen Arzt und teure Medizin. Trotz Sturm und Wellengang beschloss der junge Fischer hinauszufahren. Er dachte an die Seejungfer, die sich schon manchem Fischer in der Weihnachtszeit gezeigt und ihm Glück gebracht hatte. Er kämpfte sich mit seinem Boot durch die Wellen und versuchte das Netz auszuwerfen. Dabei war es ihm, als winkte eine Gestalt. Er lenkte sein Boot dorthin, und siehe, das Wasser beruhigte sich ringsum.

Da taucht ein Weib dicht vor ihm auf, mit langen hellen Haaren und grünen Augen, ihr langer Fischschwanz schlägt das Wasser. Freundlich lacht ihn die Seejungfer an und klatscht in die Hände, als er das Netz auswirft. Als er es dann herauszieht, ist es voller Fische. Er leert es, und wieder klatscht sie in die Hände, und er wirft das Netz zum zweiten Male aus, und ebenso reichlich ist der Fang.

Nun ist sein kleines Boot so voll, dass er umkehren muss. Die Seejungfer ruft ihm noch zu: »Prahl nicht, prahl nicht!« Sie spritzt ihm neckisch Wasser nach und verschwindet in den Fluten.

Glücklich lenkte der Fischer sein Boot mit starken Armen heimwärts. Er brachte als einziger Fische zum Markt und erzielte einen hohen Preis. Die Leute staunten nicht wenig über seinen guten Fang, und als ihn jemand fragte, ob ihm etwa die Seejungfer erschienen sei, lächelte er nur viel sagend. Von dem Tage an war das Glück bei ihm eingekehrt, und nun konnte er daran denken, sein Mädchen zu heiraten. Doch da war noch sein Nebenbuhler, der, von Neid geplagt, auch gern das Glück versuchen wollte. Er machte sich mit seinem viel größeren Boot ebenfalls zum Fischfang auf. Die Seejungfer erschien wieder auf spiegelglattem Wasser und brachte ihm einen reichen Fang. Als sie ihm aber nachrief: »Prahl nicht, prahl nicht!«, ließ er ein lautes, höhnisches Gelächter erschallen. Dann musste er sich gewaltig in die Ruder legen, bis er sein volles, schweres Boot endlich auf dem Strand hatte.

Schon bald erzählte er allen Leuten von dem guten Fang, den er der Seejungfer zu verdanken hatte, und nun sei er ein gemachter Mann, denn wem sie erscheine, der habe das Glück an sein Haus gebannt. Aber wer beschreibt sein Entsetzen, als er bei der Rückkehr zum Boot alle Fische tot und halb verwest im Fischkasten liegen sah!

Hochzeit feierte bald darauf der andere junge Fischer, der nicht geprahlt hatte und auch nicht neidisch gewesen war.


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